Forgiveness Is Too Small A Word For Love
In den beiden Filmen »My Dear Mother« und »Father« werden Kinder gewaltsam von ihren Eltern getrennt. Dies geschieht nicht durch Schicksal, sondern mit Absicht. Von dem Kindsraub betroffen sind Randgruppen, Minderheiten. In »My Dear Mother« ist es die ethnische Minderheit der Sámen, in »Father« die soziale Randgruppe der mittellosen Tagelöhner, die Opfer dieses brutalen Übergriffs werden. Von der Mehrheitsgesellschaft geduldet oder erwünscht, ist das Ziel in beiden Fällen die vollständige Assimilation der Kinder.
Weite und vielschichtige Bilder entdeckt Srđan Golubović für seinen Film »Father«. Sein Protagonist kämpft für das Recht, seinen Kindern ein Zuhause geben zu dürfen. Der Dokumentarfilm »My Dear Mother« bleibt auf der anderen Seite ganz nah bei der jungen Tasha, die in dem Glauben, dass ihre Mutter tot sei, in einem Waisenhaus aufwächst. In der Hintergrundgeschichte zu seinem Film beschreibt Regisseur Paul-Anders Simma die globale und historische Dimension eines brutalen Vorgangs.
14:00 Sonntag, 20. Juni 2021
Doublefeature „Forgiveness Is Too Small A Word For Love“ – Teil 1
Stadttheater
Father
2020, Srdan Golubović
Dem mittellosen Vater Nikola werden vom Sozialamt seine beiden halbwüchsigen Kinder weggenommen, nachdem Armut und Hunger seine Frau zu einer Verzweiflungstat getrieben haben. Zuerst heißt es, dass die Kinder bei Pflegefamilien untergebracht würden, bis er angemessene Bedingungen für ihre Erziehung schaffen kann. Doch trotz Nikolas ehrlicher Bemühungen und mehrerer Bitten weigert sich der Leiter des Sozialamtes, ihm die Kinder zurückzugeben. Nikola findet heraus, dass Korruption hinter dieser Handlungsweise steht. Er beschließt, zu Fuß quer durch Serbien zu reisen und seinen Fall beim zuständigen Ministerium in Belgrad vorzutragen. Gegen alle Widerstände und angetrieben von Liebe und Verzweiflung kämpft der Vater einen schier aussichtslosen Kampf um seine Kinder.
»Father« ist ein Roadmovie, das mit den Bildern eines Westerns eine märchenhafte Geschichte am Balkan erzählt. Der Held des Films ist ein Held unserer Zeit, aber wie in einem Western kann ihm keine Ungerechtigkeit sein Recht auf Würde und die Liebe seiner Kinder nehmen. Goran Bogdan verkörpert den Tagelöhner Nikola, der am Rande der Gesellschaft existieren muss, mit zwingender Wahrhaftigkeit. Bei seinem Fußmarsch durch die schier endlosen Weiten des Balkanlandes erinnert er an Harry Dean Stanton in Wim Wenders’ »Paris, Texas« (1984) – von der Hoffnung getrieben auf der Suche nach einer Möglichkeit, sein Leben in Würde weiterzuleben.
Nikolas Weg führt durch Szenenbilder, die gleichermaßen real wie symbolhaft wirken – von den halbfertigen Häusern seines Dorfes über desolate Straßen, endlose Felder, vorbei an überflüssig gewordenen Industrieanlagen bis hinter die Stahlbeton-Glasfassaden des Regierungsviertels der Hauptstadt. Als er nach dieser Reise nach Hause zurückkehrt, erwartet ihn eine Überraschung, die wohl niemand für möglich gehalten hätte.
Produktionsländer
Serbien
Deutschland
Frankreich
Kroatien
Slovenien
Bosnia und Herzegovina
Drehbuch
Srdan Golubović
Ognjen Sviličić
Kamera
Aleksandar Ilić
Schnitt
Petar Marković
Ausstattung
Goran Joksimović
Predrag Petrović
Kostüm
Ljiljana Petrović
Maske
Marinela Spasenović
Ton
Bruno Tarriere
Erik Mischijew
Corinna Fleig
Musik
Mario Schneider
16:15 Sonntag, 20. Juni 2021
Doublefeature „Forgiveness Is Too Small A Word For Love“ – Teil 2
Stadttheater
My dear Mother
2020, Paul-Anders Simma
Tasha glaubt, dass sie ein Waisenkind ist, bis sich eines Tages ihre leibliche Mutter bei ihr meldet. Das elfjährige Mädchen lebt in einem russischen Waisenhaus und in dem Glauben, dass ihre Mutter tot ist und ihr Vater lebenslang im Gefängnis sitzt. Mittlerweile hat sie dort eine russische Stiefmutter gefunden, zu der sie eine enge Beziehung aufgebaut hat. Bereits vor einigen Jahren hatten die Behörden ihre Mutter, die angeblich an einer Überdosis verstorben war, für tot erklärt. Doch eines Tages ruft ihre leibliche Mutter bei ihr an und behauptet, dass sie nun drogenfrei sei.
Tasha ist eine Sámi, wie die eigentliche Bezeichnung für jenes indigene Volk ist, das gemeinhin als »Lappen« bezeichnet wurde. Überall auf der Welt wurden Kinder verschiedener indigener Völker »gestohlen« und in Waisenhäusern untergebracht, in der Hoffnung, dass sie in die Mehrheitsbevölkerung assimiliert werden. Obwohl sich Tasha danach sehnt, eine eigene Mutter zu haben, hat sie Angst, die unumgängliche Entscheidung zu treffen: Wird sie eine Sámi, indem sie zu ihrer leiblichen Mutter zurückkehrt, oder soll sie bei der Pflegemutter zu einer Russin werden?
Paul-Anders Simma begleitet die heranwachsende Tasha über mehrere Jahre. Obwohl für den Regisseur das Schicksal der indigenen Völker im Vordergrund steht, erzählt er anhand der Geschichte von Tasha noch eine weitere, große Geschichte. Welche Bindungen, welche Prägungen gehen über die Frage hinaus, wer unsere Eltern sind – und welche Bedürfnisse entstehen daraus? Paul-Anders Simma entlässt die Zuseherin, den Zuseher mit der Zuversicht, dass Tasha ihre schwierige Situation meistern und ein selbstbestimmtes Leben führen wird.
Produktionsland
Finnland
Kamera
Elen Lotman
Arvo Vilu
Schnitt
Jari Innanen
Ton
Martti Turunen
Musik
Esa Kotilainen
Mit
Daria Marochina